Warum das Regress-Risiko für Ärzte steigen könnte
Regresse abschaffen – das fordern Hausärztinnen und Fachärzte seit langem. Gesundheitsminister Karl Lauterbach will nun eine Bagatellgrenze einführen. Doch das ist ein vergiftetes Geschenk, bei dem Ärzte am Ende sogar mehr Regresse fürchten müssen, erklärt die Virchowbund-Praxisberaterin Margaret Plückhahn.
Täglich telefoniere ich im Rahmen der Praxisberatung mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, die Hilfe brauchen. Ein Thema kommt besonders häufig vor: der Regress.
In den letzten Jahren haben viele Krankenkassen begonnen, auch Kleinbeträge zurückzufordern. Oft sind die Forderungen nicht berechtigt – aber viele Ärzte scheuen den Aufwand nachträglich zu beweisen, dass sie korrekt verordnet haben. Es lohnt sich für sie nicht, wegen 50 oder 100 Euro mehrere Stunden in Recherchearbeiten, eine Stellungnahme, das Prüfen eines Bescheides, Widerspruch einlegen, an der Sitzung des Beschwerdeausschuss teilnehmen usw. zu stecken. Die Kassen wissen das und nutzen das aus.
Dem soll jetzt ein Riegel vorgeschoben werden. Es soll eine Bagatellgrenze für Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei ärztlich verordneten Leistungen geben: 300 Euro. Damit wären 70-80 % aller Arzneimittelregresse künftig nicht mehr möglich – sagt Karl Lauterbach. Er verkauft das öffentlichkeitswirksam als Entlastung der Ärzte von Bürokratie. Er wolle die „Kultur des Misstrauens“ beenden.
2022 gab es in Deutschland etwa 47.000 Wirtschaftlichkeitsprüfungen bei niedergelassenen Ärzten. Davon wären – nach Rechnung des BMG – 32.900 unter der Geringfügigkeitsgrenze und damit in Zukunft hinfällig.
In Wahrheit handelt es sich um vergiftetes Geschenk.
Was ist geplant?
Laut Gesetzentwurf (Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz, GVSG vom 8.4.2024) sollen Regresse für ärztliche verordnete Leistungen „bis zu einem Betrag von 300 Euro je Betriebsstättennummer, Krankenkasse und Quartal“ nicht mehr beantragt werden können.
§ 106b Absatz 2 SGB V regelt die Rahmenvorgaben für die Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlich verordneter Leistungen. Darüber verhandeln der GKV-Spitzenverband und die Kassenärztliche Bundesvereinigung.
Nach den Rahmenvorgaben drohen Ihnen als Arzt oder Ärztin Prüfungen für z. B folgende Verordnungsbereiche:
- Arznei- und Verbandmittel einschließlich Sprechstundenbedarf
- Heilmittel
- Hilfsmittel
- Krankenhausbehandlungen
- Leistungen der medizinischen Rehabilitation
Schon jetzt bieten diese Rahmenvorgaben die Möglichkeit, Bagatellgrenzen zu vereinbaren. Auf Landesebene wird von dieser Möglichkeit bislang im Rahmen der jeweiligen Prüfvereinbarungen sehr unterschiedlich Gebrauch gemacht, denn hier mauern die Krankenkassen.
Mit der Ergänzung in § 106b Absatz 2 Satz 2 SGB V wird nun geregelt, dass neben dem Umfang von Wirtschaftlichkeitsprüfungen die Rahmenvorgaben zukünftig verpflichtend auch die Vorgabe zur Aufnahme einer Geringfügigkeitsgrenze in Höhe von 300 Euro in den Prüfvereinbarungen enthalten müssen, bis zu deren Erreichung Wirtschaftlichkeitsprüfungen nicht beantragt werden können.
Warum gibt es bald eine höhere Bagatellgrenze für Regresse?
Wirtschaftlichkeitsprüfungen sind vor allem für den Arzt aufwändig. Durch die neue Bagatellgrenze soll es eine Entlastung, also Entbürokratisierung geben.
Für die Krankenkassen sind Prüfanträge in aller Regel nicht sehr aufwändig. Zur Rezeptprüfung laufen automatisierte Prozesse. Sollten die vielen Kleinanträge nicht mehr gestellt werden dürfen, dann würden den Kranlenkassen rund 3 Mio. Euro entgehen. Zum Vergleich: Die GKV gibt pro Jahr insgesamt 43 Mrd. Euro für Arzneimittel und 11 Mrd. Euro für Heilmittel aus. Es geht also um „Peanuts“.
Wo ist der Haken?
Regresse werden nicht abgeschafft. Es ändert sich vordergründig nur die Grenze für Einzelfallprüfungen.
Bei der Einzelfallprüfung werden einzelne Verordnungen auf Antrag einer Krankenkasse überprüft. Häufige Auslöser für eine Einzelfallprüfung sind z. B.
- Verordnung im unzulässigen „Off-Label-Use“
- Verordnung unwirtschaftlicher Mengen (auch Sprechstundenbedarf)
- Unwirtschaftlicher Bezugsweg bei Verordnung von Sprechstundenbedarf oder Impfstoff
Eine ausführlichere „Hitliste“ der Gründe für eine Einzelfallprüfung präsentiere ich in den wiederkehrenden Webinaren zum Thema Regress. Darin besprechen wir auch, wie Sie sich schützen können.
Andere Arten der Wirtschaftlichkeitsprüfung sind weiterhin erlaubt und können auch weiterhin zu Regressen führen.
Deswegen werden wir es in der Praxisberatung des Virchowbundes unverändert mit Fällen zu tun bekommen, in denen die Regresssumme existenzbedrohend hoch ist. Denn die statistische Vergleichsprüfung bleibt unverändert. (Wie diese funktioniert, erklären wir u. a. unter Wirtschaftlichkeitsprüfung und in der Praxisinfo 30 „Wirtschaftlichkeitsprüfung, Plausibilitätsprüfung & Co.“.)
Das ändert sich für Ärzte tatsächlich
Die neue Antragsgrenze bezieht sich auf je eine Betriebsstättennummer je Quartal und je Krankenkasse. Die Krankenkassen werden daher zukünftig nicht mehr jede einzelne Verordnung gesondert beanstanden. Sie werden stattdessen einfach die Prüfanträge sammeln, bis diese die Bagatellgrenze überschreiten.
Bei Praxen mit mehreren Ärzten – z. B. Berufsausübungsgemeinschaften und MVZ – wird das sogar noch einfacher. Denn die Bagatellgrenze gilt nicht pro Arzt, sondern pro Betriebsstättennummer. Das Risiko für einen Regress erhöht sich für solche Praxen sogar!
Mit anderen Worten: Als Arzt bekommen Sie in Zukunft weniger Post von der Krankenkasse – aber insgesamt wird es für Sie teurer.
Die Ankündigung, Ärzte von Regressen zu entlasten, ist also nicht mehr als eine große Luftnummer. In Wahrheit profitieren nur die Krankenkassen, die in Zukunft Prüfanträge einfach gesammelt stellen können. Dadurch, dass die Einzelprüfung auf Antrag nun betriebsstätten- statt arztbezogen möglich werden soll, wird es für die Kassen noch einfacher, sich ihr Geld zurückzuholen. Sie als Arzt müssen weiterhin zu jeder Position des Prüfantrages Stellung beziehen und haben keine Erleichterung.
Die Bagatellgrenze in der derzeitigen Form (Gesetzentwurf vom 8.4.2024) ist also ein vergiftetes Geschenk an die Ärzteschaft.
Wie können Sie sich vor Regressen schützen?
Der beste Schutz vor Regress ist Wissen: Sie sollten verstehen, wie Wirtschaftlichkeitsprüfungen funktionieren und ablaufen. Und sie sollten die häufigsten Auslöser von Regressen kennen.
Für Mitglieder im Virchowbund bieten wir auch regelmäßig Online-Seminare zur Regressprävention an. Melden Sie sich am besten gleich an!
Ist die Prüfstelle bereits aktiv geworden, können Sie sich auch an die Rechts- und Praxisberatung für Mitglieder im Virchowbund wenden. Dort erhalten Sie z. B. eine Vorlage für die Stellungnahme zur Wirtschaftlichkeitsprüfung.
Auf unserer Webseite finden Sie mehr Informationen unter Regress und noch detaillierter in der Praxisinfo „Wirtschaftlichkeitsprüfung, Plausibilitätsprüfung & Co.“.
Und falls Sie die folgenden Beiträge im Praxisärzte-Blog noch nicht kennen, sollten Sie sie jetzt unbedingt lesen:
- Medikamente richtig verordnen: So vermeiden Sie als Arzt Regresse
- Wann führt das Heilmittel verordnen zum Regress?
- Laborbonus im EBM: So erhalten Sie den Wirtschaftlichkeitsbonus
- Regress: Selten bedrohlich, aber lästig
- Plausibilitätsprüfung steht an? So widersprechen Sie als Arzt
Sie haben einen Regressbescheid erhalten oder eine Wirtschaftlichkeits- oder Plausibilitätsprüfung steht im Raum? Als Mitglied im Virchowbund hilft Ihnen unsere Praxisberatung oder Rechtsberatung weiter. Von weiteren Vorteilen und Services können Sie profitieren, indem Sie Mitglied werden.
Kommentare
Sehr geehrter Herr Zimmermann,
Sie haben grundsätzlich Recht, zwar könnten die Kassen auch bereits jetzt Prüfbescheide sammeln; in der Praxis werden diese aber noch automatisiert einzeln versendet. Es steht zu befürchten, dass in Zukunft dort, wo die Mindestsumme von 300 Euro noch nicht erreicht wird, einfach so lange weiter gesucht wird, bis genügend „Masse“ vorhanden ist.
Bei einer BAG oder MVZ wird das noch leichter, weil sich die Grenze auf die Betriebsstättennummer bezieht und nicht wie bislang auf den einzelnen Arzt. Das alles führt dazu, dass das Regressrisiko sogar noch steigt.
Ihr Virchowbund
Vielen Dank für ihren Artikel, leider wird mir nicht klar, warum das Regressrisiko in einem MVZ oder einer Gemeinschaftspraxis nun höher ausfallen sollte. Könnten die Krankenkassen nicht auch jetzt schon einfach sammeln? Ich sehe keinen praktischen Unterschied, sondern vielmehr eine Entlastung, denn statt beispielsweise 6 Anträgen â 50 € sind die Kassen gezwungen einen einzelnen Antrag zu stellen = weniger Bürokratie. Das genau ist auch die Intention des GSVG, es soll nicht vor "unrechtmäßigen" Regressen schützen, sondern vielmehr Bürokratie abbauen.
Sofern meine Einschätzung fehl geht, bitte ich um Klarstellung, vielen Dank.