Unfassbarer Heilmittelregress wegen Ignoranz

Praxisberatung für Ärztinnen und Ärzte ist eine ernste Sache, immer abwechslungsreich – oft aber auch blanker Wahnsinn. So wie in diesem Fall aus unserer Praxisberatung:

Zwei Praxen haben ihre Praxisbesonderheiten einwandfrei begründet. Doch die Prüfungsstelle bescheidet ihre Heilmittelprüfungen negativ. Mit kruden Argumenten und unannehmbaren Praktiken.

Regressforderung in 6-stelliger Höhe

Kurz vor Jahresende trudeln in vielen Praxen noch die Bescheide aus der Heilmittelprüfung für das vorletzte Jahr ein. Diese Freude hatten 2023 auch zwei Praxisärzte, die sich für ihre Verordnungen rechtfertigen sollten und mit ihren Fragen zur Praxisberatung beim Virchowbund kamen.

Beide hatten Stellungnahmen gegeben, Praxisbesonderheiten angemeldet, fehlerhafte Daten reklamiert – alles zwecklos. Also landeten sie bei mir.

Auf beide wartete die Beratung vor Regress, oder hier: der Warnschuss vor dem sicheren Tod. Denn die Höhe der hier umgewandelten Regresse ist existenzvernichtend: 6-stellig. Und ihr Verordnungsverhalten auf ein Durchschnittsmaß drücken könnten die beiden Ärzte nur, indem sie ihre Schwerpunkttätigkeit aufgeben.

Was war passiert?

 

Bequemlichkeit, Chaos, Kalkül? Alles richtig machen schützt nicht gegen Schikane

Beide Praxen sind fachübergreifend tätig, spezialisiert und behandeln interdisziplinär. Patienten kommen extra von weit her. Die jeweiligen Behandlungsspektren führen zu hohen Kosten für Heilmittelverordnungen – „hoch“ im Vergleich zum Fachgruppendurchschnitt.

Hintergrund: In vielen KV-Bezirken wird die Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise per Vergleich geprüft. Z. B. so, dass die Verordnungskosten eines Arztes mit denen seiner Fachgruppe verglichen werden.

Aber welche Fachgruppe soll das sein, wenn eine Arztpraxis interdisziplinär ist? Die Durchschnittswerte bilden eine interdisziplinäre Schwerpunktversorgung nicht ab!

Noch einmal: Die überdurchschnittlichen Kosten wurden jeweils

  • als Praxisbesonderheit angemeldet
  • fachlich begründet
  • anhand der Daten der Prüfungsstelle quantifiziert.

Abgelehnt!

 

Ein Ablehnungsgrund ist besonders beeindruckend: Die Versichertennummern der betroffenen Patienten seien nicht genannt.

So ein Quatsch! Die Versichertennummern sind im Datensatz und für die Prüfungsstelle mit den Angaben ganz leicht zu filtern. Wie war das mit der Amtsermittlungspflicht?

Okay, wieder etwas gelernt: Ein Arzt ist gut beraten, vor seiner ersten Verordnung einen Excel-Kurs zu besuchen. Und die Arbeit der Prüfungsstelle selbst zu übernehmen.

Halt, das würde auch nicht helfen: Der Bescheid ist auf Papier und über 200 Seiten lang! Da fehlen mir als Praxisberaterin die Worte.

Stimmt, einen elektronischen Bescheid erlassen darf oder kann die Prüfungsstelle nicht. Aber wird es hier dem Arzt nicht wieder einmal unnötig schwer gemacht, zu seinem Recht zu kommen?

 

Die Selbstverwaltung ist immer noch nicht in der Realität angekommen

Mir drängt sich ein Verdacht auf, warum man hier keine positiven Bescheide erlassen hat: Nicht aus fehlerfreier Ermessensausübung, sondern aus reinem Selbstzweck.

Da frage ich mich: Wem dient die Selbstverwaltung eigentlich?

 

Und jetzt?

Glasklar: Hier muss Widerspruch eingelegt und der Beschwerdeausschuss angerufen werden. Dabei begleite ich die beiden Ärzte natürlich.

Und immerhin sind die Praxen in diesem Fall nach eingehender Beratung nun gut gewappnet für den Weg durch die Instanzen.

 

Sie haben ebenfalls Praxiswahnsinn erlebt?

Erzählen Sie uns davon – in den Kommentaren oder per E-Mail.

Die hier dargestellten Fälle sind aus der persönlichen Praxisberatung des Virchowbundes, gesammelt und aufgeschrieben von Margaret Plückhahn, unserer Praxis- und Niederlassungsberaterin.

„In meiner täglichen Beratungspraxis begegnen mir zuweilen Fälle, die auch mich nach über 30 Jahren Tätigkeit im Gesundheitswesen nur den Kopf schütteln lassen. Fälle, die die teils tragische Absurdität unseres Gesundheitssystems offenlegen. Fälle, die zum verzweifelten Seufzen, Weinen oder Lachen bringen – und die es verdient haben, dass sie öffentlich gemacht werden.“

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