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Rechtswidriger Regress verbrennt viel Geld
Praxisberatung für Ärztinnen und Ärzte ist eine ernste Sache, immer abwechslungsreich – oft aber auch blanker Wahnsinn. So wie in diesem Fall aus unserer Praxisberatung:
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Ein Heer von Anwälten aus Krankenkassen und KVen kämpft gegen einen einzelnen Arzt im Ruhestand. Auffällig ist der irrsinnige Aufwand. Und der Streitwert.
David gegen Goliath
Ein Spätsommertag 2024. Vor dem ehrwürdigen Gebäude des Sozialgerichts versammelt sich eine Schar von Körperschaften entsendeter Vertreter. Für sie geht es um eine Machtdemonstration: Die Hoheit zu bestimmen, was recht und unrecht ist, was zulässig ist und was nicht, und was bei Widerrede und Verstoß von wem als Schaden auszugleichen ist. Hier sollen heute richtig dicke Bretter gebohrt werden.
Die Liste der Beigeladenen ist lang. Schließlich haben alle Verfahrensbeteiligten gemeinsam es geschafft, diese Nummer vor Gericht zu bringen!
Am Rand steht ein einzelner älterer Arzt – der Kläger. Er kämpft als David gegen Goliath.
Der Stein des Anstoßes: Sprechstundenbedarf
Der Arzt hatte sich neben seiner Praxistätigkeit ehrenamtlich um die Koordination des Notdienstes gekümmert. Fast eineinhalb Jahrzehnte trug er die Verantwortung für das Funktionieren der örtlichen Notdienstpraxis, für die er mehrere Dutzend Kolleginnen und Kollegen koordinieren musste.
Im Rahmen dieser Tätigkeit hat er sich vermeintlich folgendes zu Schulden kommen lassen: Er soll Sprechstundenbedarf geordert haben, der nicht als Sprechstundenbedarf bezugsfähig war.
Lesen Sie hier mehr zur Unterscheidung Praxisbedarf vs. Sprechstundenbedarf.
Kurios: Regress trotz Ruhestand
„David“ hat anscheinend gegen die geltende Sprechstundenbedarfsvereinbarung verstoßen. Er bekam also Post von der Prüfungsstelle. Der Vorwurf wurde genannt und belegt.
Nur: Die Anforderung (das Rezept) trug gar nicht seine Unterschrift. Der Arzt hatte seinen Dienst als Koordinator zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben und war in den Ruhestand gegangen.
Die Prüfungsstelle nahm zwar zur Kenntnis, dass der Arzt, der hier auf die Verhandlung wartet, gar nicht Unterzeichner der Verordnung war. Sie unterstellt ihm aber Zuständigkeit und damit Verantwortung für den Schaden. Diesen Schaden habe er auszugleichen. Es steht also ein Regress an.
Im Glauben, es könne sich nur um einen Fehler handeln, legt der Arzt im Ruhestand Widerspruch ein, erklärt alles erneut und legt Belege und Beweise vor.
Es nützt ihm nichts. Die andere Seite macht einfach dicht und lehnt den Widerspruch ab – wider besseres Wissen.
Dem Arzt bleibt nur der Weg vors Gericht
Bisher hat unser „David“ sich zweimal erklärt, alle zur Klärung des Sachverhaltes erforderlichen Informationen liegen doppelt vor, zwei Instanzen sind bemüht worden.
Weil er diese Ungerechtigkeit auch im Sinne seiner Zunft nicht hinnehmen will, ruft er das Sozialgericht an.
Nun werden also auch noch die Rechtsabteilungen der beteiligten Krankenkassen(-verbände) und der Kassenärztlichen Vereinigung involviert. Ein Anwalt muss eingeschaltet werden, und die Körperschaften rüsten zum Gefecht vor Gericht.
Bei 8 beigeladenen Parteien ist ein Vielfaches an Köpfen mit dem Fall beschäftigt. Kläger und Beklagte kommen samt Entourage noch hinzu, außerdem Berufsrichter, ehrenamtliche Richter und weitere Beschäftigte am Gericht.
Die Richter sprechen ein Machtwort
Die Verhandlung hingegen ist kurz. Sehr kurz. Der Richter teilt der Kammer seine Auffassung knapp und unmissverständlich mit: Der Bescheid, gegen den David hier klagt, sei rechtswidrig. Aus.
Wie viele Personen haben dieses kurze Spiel gespielt? Wie hoch waren die direkten und indirekten Kosten?Man möchte es lieber nicht schätzen.
Streitwert: 30 Euro
Aber immerhin war das Verfahren sicherlich jeden Cent wert. Denn der Streitwert lag bei sage und schreibe 30,63 Euro.
Und es muss ja keiner der Körperschaftsvertreter zahlen. Denn am Ende zahlen die Ärzte (per Verwaltungskosten) und die Versicherten (per Krankenversicherungsbeitrag).
Schließlich zahlt auch die Gesellschaft. Denn wer möchte unter solchen Bedingungen denn noch den (ehrenamtlichen!) Job dieses Arztes machen?
Und jetzt?
Der angeforderte Sprechstundenbedarf ist nur ein Aufhänger. In Wirklichkeit geht es darum, die selbstgezimmerten Grenzen zu verteidigen. Darum, die Gremien der Selbstverwaltung um jeden Preis zu beschäftigen, Strukturen zu bewahren. Egal, ob das der vertragsärztlichen Versorgung dient oder schadet.
Wenn die Selbstverwaltung – eine großartige Errungenschaft für die Ärzte – so zum Selbstzweck verkommt, dann hat sie ausgedient.
Ich nehme diesen Fall zum Anlass „Danke“ zu sagen. Danke an David, dass er sich neben der Versorgung der Patienten in seiner eigenen Praxis auch um die Koordination der Notdienste gekümmert hat. Danke dafür, dass er im Sinne der Niedergelassenen sich nicht hat gefallen lassen, was die Anzugträger verbockt haben. Danke an das Gericht, das Recht als Recht erkannt hat.
Und ich nehme diesen Fall zum Anlass, Goliath aufzufordern, sein Hirn einzuschalten. Und der Sache zu dienen. Nicht dem Selbstzweck.
Sie haben ebenfalls Praxiswahnsinn erlebt?
Erzählen Sie uns davon – in den Kommentaren oder per E-Mail.
Die hier dargestellten Fälle sind aus der persönlichen Praxisberatung des Virchowbundes, gesammelt und aufgeschrieben von Margaret Plückhahn, unserer Praxis- und Niederlassungsberaterin.
„In meiner täglichen Beratungspraxis begegnen mir zuweilen Fälle, die auch mich nach über 30 Jahren Tätigkeit im Gesundheitswesen nur den Kopf schütteln lassen. Fälle, die die teils tragische Absurdität unseres Gesundheitssystems offenlegen. Fälle, die zum verzweifelten Seufzen, Weinen oder Lachen bringen – und die es verdient haben, dass sie öffentlich gemacht werden.“
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