Die schmerzhafte Geburt der Gesundheitswirtschaft
Das soziale Gesundheitswesen ist ein Modell von gestern. Wir stecken bereits mitten in der Transformation hin zur industriellen Gesundheitswirtschaft. Diese Entwicklung betrifft Ärzte und Patienten weltweit. Ein Gastkommentar von Prof. Dr. Paul Unschuld.
Für einen Medizinhistoriker wie mich, der die gegenwärtigen Entwicklungen in unserem Gesundheitswesen beobachtet, erleben wir eine faszinierende Zeit. Wir haben das Ende einer Periode erreicht, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann.
Eine gesunde Industriearbeiterschaft benötigte damals eine gesunde Bevölkerung ungeachtet von Bildung, Vermögen und Schichtzugehörigkeit. Dasselbe galt für die neue Militärstrategie der Volksheere – auch hier wurden so viele gesunde Männer wie möglich benötigt.
Das war der Moment, in dem die Ärzteschaft das Mandat erhielt, sich für die Gesundheit der Gesamtbevölkerung einzusetzen. Das war verbunden mit dem Privileg, unbequeme Fragen an die Mächtigen zu stellen, wenn irgendwo Wohn-, Arbeits- oder Lebensbedingungen erkannt wurden, die der Gesundheit der Gesamtbevölkerung abträglich waren. Die Gründung der Gesetzlichen Krankenkassen war der Baustein, der das neue Gesundheitssystem vollendete.
Das bismarcksche Gesundheitssystem, dessen Ende wir nun miterleben. Die Meinung der Ärzteschaft wird nicht mehr als Maßstab aller Dinge im Gesundheitswesen anerkannt. Die Gesetzlichen Krankenkassen beanspruchen die Leitung und sind aus der Mittlerrolle zu eigenständig agierenden Industrien mit eigenen Produkten und eigenem Gewinnmaximierungsinteresse geworden.
Tatsächlich sind es nicht nur diverse Krankenkassen, die sich in Deutschland ein Mitspracherecht erkämpft haben. Mehr noch sind es mittlerweile die Investoren und direkt abhängig von diesen oder in Diensten staatlicher oder kommunaler Träger wirkende Kaufmännische DirektorInnen, die – ohne je Medizin studiert zu haben und ohne je Verantwortung am Krankenbett oder im Operationssaal getragen zu haben – vor allem nach marktwirtschaftlichen, kommerziellen und Rendite-Erwägungen die Leistungen im Krankenhaus definieren. Die Entwicklung zu einer von vielen Ärzten als Entmündigung wahrgenommenen Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsbefugnisse vollzieht sich nicht auf allen Ebenen der Krankenversorgung in gleichem Maße. Aber der Wandel in unserem Gesundheitswesen ist unverkennbar.
Es ist ein Wandel hin zu einer „industriellen Gesundheitswirtschaft“ – so bezeichnen es jene Interessengruppen und Politiker, die davon profitieren. Ziel ist es, das Gesundheitswesen industriellen Marktmechanismen zu unterwerfen, um es auf diese Weise in einen gesellschaftlichen Faktor zu verwandeln, der den Staat nicht länger dazu zwingt, Steuergelder für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung auszugeben. Stattdessen soll die „industrielle Gesundheitswirtschaft“ sich selbst tragen, mehr noch: Investoren anlocken, möglichst hohe Renditen erzeugen.
Vor wenigen Jahren gingen zahlreiche junge und einige ältere Ärztinnen und Ärzte auf die Straße, um gegen ihre Arbeitsbedingungen und die damalige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zu protestieren; in Worten wie „Ulla, dann operier doch selber!“ Diese Proteste waren naiv. Sie spiegelten den Glauben wider, einzelne Politiker seien für gute Argumente empfänglich und besäßen die Kraft, den Gang der Dinge zu beeinflussen. Genau dies ist nicht der Fall.
Mittlerweile sind nicht wenige Bücher erschienen, in denen mehr oder weniger deutlich die zunehmende marktwirtschaftliche Orientierung des Gesundheitswesens beschrieben und kritisiert wird. Diese Bücher nennen zahlreiche subjektiv von Ärzten empfundene oder auch objektiv vorhandene Missstände, aber es fehlt ihnen doch allesamt ein wesentlicher Inhalt: Die Analyse der Ursachen für die gescholtene Entwicklung.
Hier aber liegt der entscheidende Schlüssel nicht nur für ein Verständnis der Entwicklung des Gesundheitswesens zu einer industriellen Gesundheitswirtschaft. Tatsächlich ist der Wandel unseres Gesundheitswesens nur ein Teil einer globalen Neuorientierung wirtschaftlicher Prozesse. Das von einer immer stärker werdenden Finanzindustrie künstlich geschaffene Geld findet seinen Weg in die reale Wirtschaft. Keine nationale Politik ist imstande, die Konsequenzen einzudämmen; sie sind im Gesundheitswesen genauso erkennbar wie im Erziehungswesen, in der Immobilienwirtschaft – kurz, überall dort, wo Investitionen möglich sind und bei entsprechender Veränderung der Situation hohe Renditen versprechen.
Diese Herausforderung anzunehmen bedeutet, zunächst einmal ihre Wurzeln zu analysieren. Ohne eine solche Analyse bleibt alle Kritik an den Symptomen ergebnislos.
Der Medizinhistoriker Prof. Dr. Paul Unschuld ist Direktor des Instituts für Chinesische Lebenswissenschaften der Charité-Universitätsmedizin Berlin. Im November 2017 erhielt er die Kaspar-Roos-Medaille des Virchowbundes für Verdienste um das Ansehen der Ärzteschaft. Seine Definition der ärztlichen Freiberuflichkeit prägt das Selbstverständnis der Ärzteschaft.
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