Diese 12 Fehler zerstören das ambulante Gesundheitswesen
Die ambulante medizinische Versorgung steckt in einer schweren Krise. Unser Gastautor Dr. Dirk Heinrich geht den Ursachen auf den Grund und zeigt Lösungen auf.
Ist das ambulante Gesundheitswesen noch zu retten? Um das herauszufinden, müssen wir uns zuerst die Frage stellen, was uns in die aktuelle Krise gebracht hat.
Über Jahrzehnte haben es die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit ihren selbstverwalteten Kassenärztlichen Vereinigungen geschafft, eine hervorragende haus- und fachärztliche Versorgung sicherzustellen: stets verfügbar, hochqualitativ, patienten- und bedarfsgerecht.
Dennoch setzte ab 2005 eine Politik der immer stärkeren Reglementierung und Einengung freiheitlicher Selbstverwaltung ein. Unter Ulla Schmidt nannte man das „Professionalisierung“. Die gesetzlichen Krankenkassen wurden in einen Pseudowettbewerb getrieben, die Höhe des Zusatzbeitrages wurde zum Credo erhoben.
Die medizinische Versorgung spielt seitdem nur noch eine untergeordnete Rolle. Die „Krankenkassenfürsten“ konzentrieren sich auf ihre Versichertenzahlen und den Zusatzbeitrag, anstatt sich um die tatsächliche Gestaltung der medizinischen Versorgung ihrer Versicherten zu kümmern. Das sieht man z. B. bei der Forderung nach Nullrunden im Zuge der „Verhandlungen“ rund um den Orientierungspunktewert. Oder im HNO-Protest von 2023: Die gesetzlichen Krankenkassen halten tatsächlich den Preis von 104 € für eine 30- bis 40-minütige Operation an einem Kind in Narkose mit erheblichem Blutungsrisiko für gerechtfertigt. Eine Dauerwelle in Deutschland kostet etwa dasselbe oder mehr.
In weiten Teilen der Politik und Kassen herrscht ein abgrundtiefes Misstrauen und völliges Unverständnis gegenüber freiberuflichen und selbstständigen Strukturen, wie es hausärztliche und fachärztliche Praxen und ihre Selbstverwaltung sind. Dahinter steckt ein tief verwurzelter Glaube an die Planbarkeit und an die Wirksamkeit staatlicher Eingriffe.
Das geht am besten in Strukturen, die nur mit angestellten Ärzten funktionieren. Doch solche staatlichen Gesundheitssysteme sind nachweislich höchst ineffizient.
Praktische Erfahrung wird als Lobbyismus gebrandmarkt. Lieber holt man sich durch angeblich neutrale Experten „aus der Wissenschaft“ verdeckten Lobbyismus in die Beratergremien. Dabei wird allzu häufig nach politischen Gesichtspunkten ausgesucht anstatt nach echter Expertise.
Ein Beispiel: In der Krankenhausreformkommission sitzen Verwaltungsleiter und Vorstandsvorsitzende von Unikliniken, die natürlich Lobbyisten für ihre eigene Institutionen sind. Dazu sind sie durch ihre Arbeitsverträge sogar verpflichtet, dafür werden sie bezahlt. Wahrgenommen wird diese Parteilichkeit von der Politik aber nicht.
Die Ambulantisierung wird weiterhin verschlafen. Das volle Potenzial, Leistungen ambulant zu erbringen, wird nicht gehoben. Die dringend notwendige Reform der Notfallversorgung bleibt aus.
Damit sind die beiden wichtigsten Faktoren, die zu einer effektiven Krankenhausreform führen könnten, ausgehebelt. Jede Krankenhausreform wird damit vorläufig bleiben – in wenigen Jahren wird es erneut eine Reform brauchen.
Weite Teile der Politik glauben, den Versicherten sei alles zu ermöglichen und nichts zuzumuten. Damit leisten sie einem ungebremsten Ressourcenverbrauch durch Patientinnen und Patienten Vorschub. Denn diesen fehlt zumeist das Verständnis für die eigene Verantwortung für die Inanspruchnahme und die dadurch ausgelösten Kosten von medizinischen Leistungen.
Dem unbegrenzten Leistungsversprechen der Politik und der unbegrenzten Leistungsinanspruchnahme durch Patientinnen und Patienten stehen aber in Zukunft zunehmend weniger Ressourcen (Fachkräfte, Zeit und Geld) gegenüber. Dieses Missverhältnis ist auf Dauer nicht tragbar.
Schon gar nicht kann die dadurch entstehende Unterfinanzierung einseitig den Ärztinnen und Ärzten und ihren medizinischen Fachangestellten aufgebürdet werden.
Der medizinische Bedarf steigt durch die Alterung der Gesellschaft. Gleichzeitig ist die Medizin eine immer besser werdende „half way technology“ (häufig macht Medizin Menschen nur weniger krank und langlebiger, anstatt sie tatsächlich zu heilen). Dadurch steigt der Leistungsbedarf.
Kassen und Politik interpretieren den steigenden Bedarf aber als ungerechtfertigte Leistungsausweitung durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte. Und sie reagieren mit der Budgetierung medizinischer Leistungen und der Bedarfsplanung.
Warum die Budgetierung in 30 Jahren mehr geschadet als genutzt hat, habe ich im Beitrag „Das Gift im Gesundheitswesen: Die Folgen der Budgetierung“ erklärt.
Noch schlimmer: Auch die Folgen der Budgetierung werden den Ärzten angelastet: Terminprobleme, Wartelisten und Wartezeiten. 2023 wurde die Neupatientenregelung gestrichen. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht, weil man damit erstmals wieder dem System konkret Geld entzieht.
Regressandrohung, Budgetierung, Überregulierung, Bürokratie und ständige Eingriffe der Politik, die zur völligen Unplanbarkeit führen, schrecken junge Ärztinnen und Ärzte ab sich niederzulassen.
Auch die insgesamt zur Verfügung stehenden ärztliche Arbeitszeit sinkt – u. a. dadurch, dass angestellte Ärzte, gerade in den jüngeren Generationen, mehr Wert auf Work-Life-Balance legen und die Quote der Ärzte in Teilzeit steigt.
Weiter verschärft wird dieser Arztstundenrückgang durch den Ärztemangel. Noch vor einigen Jahren haben Politik und Krankenkassen einen Ärztemangel bezweifelt. Nun ist er eine Tatsache. Doch bis heute ist man nicht bereit, die notwendigen 5.000 zusätzlichen Medizinstudienplätze zur Verfügung zu stellen. Damit zementiert sich der Ärztemangel mindestens für die nächsten 15 Jahre.
Der Irrglaube, dass Substitution und Digitalisierung die Lösung des Ärztemangel sein könnten, ist weit verbreitet. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens wurde über Jahre und Jahrzehnte stümperhaft angepackt. Zu glauben, dass ein solch insuffizientes System fehlende Ärztinnen und Ärzte ersetzen könne, ist absurd.
Substitution heißt, ärztliche Tätigkeit zu ersetzen. Dann ist es aber keine ärztliche Tätigkeit mehr. Die damit einhergehende Versorgungsverschlechterung wird verschwiegen.
Substitution setzt im Übrigen voraus, dass für diese Tätigkeiten Menschen zur Verfügung stehen. Der Fachkräftemangel sowohl in der Pflege als auch bei den medizinischen Fachangestellten ist aber eklatant. Setzt man diese für Substitution ein, fehlen sie an anderer Stelle.
An anderer Stelle hat der Virchowbund bereits Vorschläge gemacht, wie sich der Fachkräftemangel bekämpfen lässt.
Der stationäre Sektor ist die ineffizienteste Struktur in unserem Gesundheitswesen. Krankhäuser beziehen 50 % ihrer stationären Patienten aus ihrer Notaufnahme. Vieles, was ambulant gemacht werden könnte, wird in Deutschland noch stationär diagnostiziert und behandelt.
In der Pandemie wurden 19 von 20 Corona-Patienten in den Arztpraxen behandelt. Dennoch brannten sich die dramatischen Bilder von den Intensivstationen mit beatmeten Patienten und erschöpften Pflegekräften ein. So flossen weitere Milliarden in die Krankenhausstruktur, ähnliche Pakete für die Praxen gab es nicht.
Etwas, das funktioniert, wird häufig übersehen. Die Folge ist eine Vernachlässigung, eine fehlende Wertschätzung (Stichwort: Corona-Prämie für MFA) und eine Unterfinanzierung des ambulanten Gesundheitswesens. In der nächsten Pandemie wird man über den dann nicht mehr funktionierenden ambulanten Bereich berichten.
Wann immer es um Geld für Arztpraxen geht, ist das erste Argument der Kassen das angeblich üppige Einkommen von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. Hier wird mit falschen Zahlen eine unverschämte Neiddebatte angezettelt (siehe Punkt 1). Dieses Verhalten von Krankenkassen ist unwürdig und unethisch.
Die jetzt schon seit Jahrzehnten fehlende Wertschätzung von Politik und Krankenkassen führt zu einer inneren Emigration von Ärztinnen und Ärzten. Die Folge sind Dienst nach Vorschrift und Frühpensionierung. Beides prägt zurzeit den niedergelassenen Bereich. Beides ist in der jetzigen Situation aber absolut kontraproduktiv.
Jeder, der sich schon einmal niedergelassen, den Praxispartner gewechselt oder eine Genehmigung beantragt hat, weiß: Als Arzt wird man mit Formularen überhäuft. Schuld daran sind konkrete Anforderungen aus Gesetzen. Dazu kommen übertriebene Hygienevorschriften, Datenschutzerklärungen und vieles mehr.
Auch das schreckt von der Niederlassung ab und zermürbt die bereits niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen. Die innere Emigration nimmt zu.
Budgetierung, Bedarfsplanung, Honorarverteilungsmaßstäbe und die Leistungsfeindlichkeit des Systems führen zu Fehlanreizen. Die Behandlung von weniger ernst erkrankten Menschen wird überbetont. Patientinnen und Patienten, deren Krankheiten aufwendig und mühsam sind, werden in diesem System zu den unattraktivsten Patienten gestempelt. Die Abschaffung der Neupatientenregelung fördert dies enorm.
Soweit die Betrachtung der Ursachen. Aber gibt es auch eine Therapie für unser krankes Gesundheitswesen?
Ich denke: ja.
Niederlassung attraktiv machen
Ärztinnen und Ärzte lassen sich immer dort nieder, wo sie gebraucht werden. Damit dies wieder möglich wird, sind drei Bedingungen zu erfüllen.
- Erstens braucht es ausreichend medizinischen Nachwuchs, also mehr Studienplätze. Nur wenn es ausreichend Ärztinnen und Ärzte gibt, werden sich Ärztinnen und Ärzte auch an den weniger attraktiven Standorten niederlassen, da die attraktiven Standorte dann überversorgt sind.
- Zweitens muss die Budgetierung abgeschafft werden. Leistung muss sich lohnen. Sofort würden soziale Brennpunkte mit vielen Patienten wieder attraktiv.
- Drittens muss die Niederlassungsfreiheit wiederhergestellt werden. Nur die Freiheit, sich niederzulassen, wo man möchte, führt dazu, dass Ärztinnen und Ärzte dorthin gehen, wo sie ausreichend Patientinnen und Patienten finden.
In sozialen Brennpunkten tätig zu sein, ist medizinisch und menschlich für viele Ärztinnen und Ärzten sehr attraktiv und eine Herzensangelegenheit.
Die zeitliche Abfolge der Reformschritte ist wichtig
- Bessere Vergütung der medizinischen Fachangestellten bei gleichzeitiger Entbudgetierung, Befreiung der Selbstverwaltung von den jetzigen bürokratischen Fesseln
- Ambulantisierung und Notfallreform sowie 5.000 zusätzliche Studienplätze für Medizin
- Vollständige Niederlassungsfreiheit und Aufhebung der Bedarfsplanung können dann in etwa 10–12 Jahren folgen. Schrittweise kann in bestimmten Regionen zuvor bereits die Bedarfsplanung aufgehoben werden.
Selbstverwaltung stärken
Die Selbstverwaltung muss ihre Gestaltungsfreiheit zurückbekommen. Krankenkassen und kassenärztliche Vereinigung müssen so miteinander verhandeln können, dass die Gestaltung von Versorgung attraktiv ist. Die Schiedsämter müssen willens, fähig und in der Lage sein, mutige Entscheidungen zu treffen. Dies erhöht auch den Entscheidungsdruck auf die beteiligten Parteien, sich einigen zu wollen, anstatt sich auf destruktive Maximalforderungen zurückzuziehen.
Effektive Krankenhausreform mit umfassender Ambulantisierung und einschneidender Notfallreform
Wir brauchen eine Krankenhausreform, die auch diesen Namen verdient. Dazu müssen die Hebel in Bewegung gesetzt werden, die den größten Effekt haben werden. Dies ist die ambulante Erbringung vieler Leistungen, die heute noch stationär erbracht werden.
Entsprechende Kataloge von Gutachtern und Verbänden liegen vor. Diese neuen ambulanten Leistungen müssen sowohl von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten als auch von Krankenhäusern, vorzugsweise in einer Kooperation, erbracht werden können.
Gleichzeitig muss eine Notfallversorgungsreform durchgeführt werden, die mithilfe von integrierten Notfallzentren und einem Ersteinschätzungsverfahren an einem gemeinsamen Tresen von KV und Krankenhaus dafür sorgt, dass sich die Anzahl der heute noch aus Notaufnahmen stationär aufgenommenen Patienten deutlich reduziert. Dieser gemeinsame Tresen muss unter Leitung der KV stehen, so wie es der Sachverständigenrat seinerzeit vorgeschlagen in dem entsprechenden Gutachten vorgeschlagen hat.
Beides zusammen würde nicht nur zu finanziellen Einsparungen führen, sondern eine Strukturreform der Krankenhäuser zulassen, die zugegebenermaßen einschneidend wäre.
Der Krankenhaussektor ist der größte Kostenfaktor im Gesundheitswesen. Mittel- bis langfristige Einsparungen sind hier am effektivsten und unerlässlich, um das Gesamtsystem zu stabilisieren.
Gleichzeitig mitgeregelt werden muss die Finanzierung der Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten und es muss ein Status für den niedergelassenen Arzt, der Leistungen in der stationären Versorgung erbringt, geschaffen werden. Rechtssicherheit ist hier unabdingbar.
Nutzerorientierte Digitalisierung
Die Digitalisierung des Gesundheitswesens muss nutzerorientiert werden. Als Nutzer gelten sowohl Patientinnen und Patienten als auch Ärztinnen und Ärzte.
Warum nicht einen Praxis-Check-in etablieren, vergleichbar mit jenem auf dem Flughafen? Wenn sich Patientinnen und Patienten in Zukunft vor dem Arzt- und Praxisbesuch digital einchecken, Anamnesebögen ausfüllen, Patientenerklärungen digital unterschreiben und ihre Kontaktdaten hinterlassen, entlasten sie dadurch die medizinischen Fachangestellten der Praxen.
Digitale Rezepte, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen etc. müssen sicher und einfach in der Anwendung sein. Alternative analoge Prozesse müssen etabliert und ebenso einfach durchführbar sein. Alles muss ausreichend getestet und erprobt worden sein – in der Praxis unter Beteiligung von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, die noch in der Versorgung tätig sind.
Patienten mehr beteiligen
Alle Akteure im Gesundheitswesen müssen sich an der Stabilität des Systems beteiligen – nicht nur die Ärztinnen und Ärzte, sondern auch die Krankenkassen und Patienten. Mitarbeit beim Praxis-Check-In und anderen Vorarbeiten, aber auch Zuzahlungen und Strafgebühren bei versäumten Terminen sind unabdingbar. Die Zahlungen sind digital problemlos über die gesetzlichen Krankenkassen möglich.
Des Weiteren müssen Patientinnen und Patienten verpflichtet werden, sich im Notfall außerhalb der Dienstzeiten niedergelassener Praxen zunächst telefonisch bei der 116 117 zu melden; dort werden sie nach Durchlaufen des Ersteinschätzungsverfahrens der richtigen Versorgungsstufe zugewiesen. Wer davon abweicht, hat die Inanspruchnahme der Notfallstrukturen selbst zu bezahlen. Dies gilt natürlich nicht für den Einsatz eines Notarztwagens.
Krankenhäuser, die kein integriertes Notfallzentrum zugewiesen bekommen haben, müssen ihre Notaufnahmen schließen. Patienten, die nach Durchlaufen eines INZ stationär aufgenommen werden, werden nach einem Schlüssel auf alle Krankenhäuser gerecht verteilt.
Fazit
Mit diesen Maßnahmen wäre eine kurzfristige Stabilisierung des Systems möglich.
Mittel- und langfristig würde eine bessere Verzahnung von ambulanten und stationären Strukturen möglich. Krankenhäuser würden auf das notwendige Mindestmaß reduziert. Die ambulante Versorgung der Bevölkerung würde ausgeweitet durch die Leistungserbringung der neuen ambulanten Leistungen sowohl durch niedergelassene Ärztinnen und Ärzte als auch durch Krankenhäuser in Kooperation. So würde eine patientengerechte Versorgung aus einer Hand mit möglichst wenig Informationsverlusten durch Sektorenwechsel möglich.
Dr. Dirk Heinrich ist niedergelassener HNO-Arzt in Hamburg und Bundesvorsitzender des Verbandes der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte (Virchowbund). Wir kämpfen dafür, die Budgetierung zu beenden, die ärztliche Selbstverwaltung zu stärken und die Freiberuflichkeit zu erhalten. Abonnieren Sie jetzt den Newsletter zu Berufspolitik, Praxisführung und Medizinrecht.
Kommentare
Keine Kommentare